03.07.2024
Ernährung & Landwirtschaft

Fermentation als Inspiration

Probieren geht über Studieren, lautet ein bekanntes Sprichwort. Am Wädenswiler Standort der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) geht beides. Insgesamt rund 40 Student:innen haben dort im Rahmen ihres Bachelor-Studienganges in Lebensmitteltechnologie experimentiert, was man mit Fermentation so alles erreichen kann. Mit am Start: 15 Rohstoffe, die aus dem Bionetz des Vereins Feldfreunde stammen.

Einsiedlerstrasse 35. Ein Gebäude mit dieser Adresse darf ein wenig versteckt liegen. Würden hier nicht schon zu früher Stunde auffallend viele junge Menschen mit Rucksäcken und Taschen ihren Übungen und Vorlesungen zuströmen, könnte man den erst im Sommer 2023 fertiggestellten Bau glatt für ein schickes Firmengebäude oder eine hochmoderne Werkshalle inmitten eines Gewerbegebiets halten. Im 2. Stock wartet bereits Susanne Miescher Schwenninger. Die in Planken wohnhafte Liechtensteinerin arbeitet hier am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation als Dozentin und leitet als Professorin die Forschungsgruppe „Lebensmittel Biotechnologie“, die sich vor allem mit Fermentationen und den dabei anwesenden Mikroorganismen beschäftigt. Am heutigen Tag geht es darum, dass die Student:innen zeigen, was damit in der Praxis alles möglich ist.

„Ich bin in der glücklichen Situation, genau das zu unterrichten, was mir auch selbst Freude macht“, strahlt Susanne Miescher Schwenninger, während sie uns an Hörsälen und Labors vorbei in Richtung einer hochmodernen Grossküche, der „Future of Food“-Versuchsküche, führt. Dort braten, kochen oder schneiden Student:innen mit weissen Kitteln und Haarnetzen bekleidet noch an verschiedenen Speisen oder füllen Getränke ab. Letzte Handgriffe vor deren Präsentationen im Rahmen des Moduls „Funktionelle Mikroorganismen in Lebensmitteln“. Die heutige Veranstaltung ist Schlusspunkt und gleichzeitig Höhepunkt des Moduls, in dem sich Theorie und Praxis treffen. Sprich: die gemachten Erfahrungen und die eigenen Kreationen aus selbst fermentierten Rohstoffen nicht nur mit der Dozentin und den Kolleg:innen ausgetauscht, sondern diese auch präsentiert und gemeinsam verköstigt werden.

Noch bleibt eine knappe halbe Stunde, bis es damit losgeht. Susanne Miescher Schwenninger widmet sich kleinerer Schreibarbeiten und hat sich dafür mit Laptop in dem der Küche unmittelbar angrenzenden Seminarraum zurückgezogen. Eine gute Gelegenheit, die Expertin kurz über den eigentlichen Kern der heutigen Veranstaltung zu befragen: Was steckt denn eigentlich hinter dem Zauberwort Fermentation? Die Dozentin schiebt die Tastatur zur Seite und lächelt. Man spürt die Begeisterung, mit der sie über ihr berufliches Steckenpferd spricht. „Die Fermentation ist seit Jahrtausenden bekannt. Vereinfacht erklärt lässt man dabei die auf den Rohstoffen natürlich vorhandenen Mikroorganismen bei warmen Temperaturen in einer sogenannten ,spontanen Fermentation‘ mit ihrem Stoffwechsel arbeiten. Neben diesem traditionellen Vorgehen werden heute aber auch gezielt Mikroorganismen beigefügt. Dadurch können Lebensmittel länger haltbar gemacht und neuartige Aromen oder Vitamine gebildet werden, neue Texturen entstehen und noch vieles mehr“, erklärt die Fermentationsexpertin.

Ein klassisches Anwendungsbeispiel ist etwa die Joghurt- oder Käseerzeugung aus Milch. Weniger bekannt, aber genauso unverzichtbar: Der Genuss von Kaffee oder Schokolade wäre ohne Fermentationsprozess von Kakaobohnen oder Kaffeekirschen nicht möglich. In der Lebensmittelindustrie erlebt die Fermentation mit all ihren Möglichkeiten gerade einen gewaltigen Boom. Für Susanne Miescher Schwenninger ist das Potential aber noch nicht annähernd ausgeschöpft – ganz im Gegenteil: „Mit dem Aufkommen von ,Convenience Food‘ wurde es üblich, Konservierungsmittel, künstliche Aromastoffe oder texturbildende Zusätze beizumengen. Heute gibt es ein Umdenken und der Begriff ,Clean Label ist längst in aller Munde: also auf deklarierungspflichtige Zusatzstoffe in Form bekannter E-Nummern mehr und mehr zu verzichten und den gewünschten Effekt durch natürliche Stoffe oder Prozesse zu erzielen. Bei der Fermentation eben mit Hilfe von Mikroorganismen.“ Dazu kommt noch, dass die Rohstoffe durch die Fermentation grundsätzlich besser verdaulich und ernährungsphysiologisch hochwertiger werden.

Als regelmässig unterrichtende Lehrperson macht die Dozentin den spürbar positiven Trend auch an der Tatsache fest, dass Student:innen noch vor etwa 10 Jahren nur sehr vereinzelt zu Hause fermentiert haben. „Wenn ich allerdings heute danach frage, sind es sicher um die 80 Prozent.“ Wie aufs Stichwort öffnet sich plötzlich die Tür zur benachbarten Laborküche und ein Student im weissen Kittel eilt hastig quer durch den Raum. „Entschuldigung, ich brauche nur ganz kurz Unterlagen aus meinem Rucksack...“.

Kurz vor 9 Uhr, die Präsentationen nebenan sind startklar. Noch bevor die Lebensmittel-Expertin die Küchenarena betritt, erzählt sie kurz, wie die Idee zum heutigen Modul überhaupt geboren worden ist: „Bei einer Tagung in Graubünden traf ich zufälligerweise Flurina Seger, die Geschäftsführerin der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein. Wir kamen dort rasch ins Gespräch und sie hat mich und mein Team danach spontan nach Liechtenstein eingeladen, um uns den Verein Feldfreunde und das Bionetz näher vorzustellen. Und im Zuge dieses Treffens entstand dann die Idee, dass unsere Student:innen fermentierte Produkte aus den Rohstoffen des Bionetzes fertigen könnten.“ In Summe wurden dafür 15 Rohstoffe zur Verfügung gestellt – von der Braugerste bis zum Gelberbsenmehl. Die Studierenden bekamen zu Beginn des Moduls schliesslich den Auftrag, aus diesen Rohstoffen ein Lebensmittel zu kreieren. Einzige Bedingung: Es muss fermentiert werden. Dazu standen nicht nur jene Fermentationskulturen zur Verfügung, die es auf dem Markt gibt, sondern zusätzlich auch über 14000 verschiedene Mikroorganismen, die aus der umfangreichen Sammlung des Teams von Susanne Miescher Schwenninger stammen.

In der Küche warten bereits zwei Studenten ungeduldig auf ihren Auftritt. Ihr Doppelmehl-Brot – bestehend aus Roggen- und Einkornmehl, beides vom Bionetz – beginnt den heutigen Reigen von insgesamt zehn Präsentationen. Kurz und bündig listen sie die verwendeten Rohstoffe, die Rezeptur und den genauen Herstellungsprozess auf und beleuchten auch die gemachten Erfahrungen sowie die Marktchancen des Endprodukts. Als eindeutigen Mehrwert, der durch die Fermentation entstanden ist, sehen die beiden Studenten das erweiterte Aromaprofil, die einzigartige Textur des Brotes sowie seine bessere Verdaulichkeit. Die Stunde der Wahrheit folgt unmittelbar nach der kurzen, nur wenige Minuten dauernde Präsentation: die Verkostung. Der knusprige Brotlaib wird in mundgerechte Stücke geschnitten und unter den Anwesenden verteilt. Die Resonanz ist überdurchschnittlich gut: Satte 7 bis 8 Punkte von 10 aus den Reihen der eigenen Kolleg:innen lassen die beiden sichtlich zufrieden ihren Vortrag beenden.

Susanne Miescher Schwenninger übernimmt das Wort. Sie stellt knappe, fachliche Nachfragen und fasst schliesslich Produkt und Ergebnis nochmals zusammen. Danach bittet sie nach dem gleichen Schema die restlichen Gruppen – eine nach der anderen – um deren Präsentationen. Strikt nach Zeitvorgabe, jedem Team stehen lediglich maximal zehn Minuten zur Verfügung. Die Bandbreite der Produkte ist erstaunlich gross und vielschichtig, wohl auch, weil die Dozentin ihren Student:innen im Vorfeld völlig freie Wahl bei den zur Verfügung gestellten Rohstoffen und dem Anwendungsgebiet gelassen hat. Die einzige, fix geforderte Zutat bei allen Nahrungsmitteln war möglichst viel Kreativität kombiniert mit einem Fermentationsschritt bei der Herstellung. So reicht die dargebotene Palette von „Pea Cookies“, auf Deutsch: Erbsenkekse, über ein rein pflanzliches Hafer-Bohnen-Patty als schmackhafte Alternative zu Hackfleisch-Tätschli bis zu Boza, einem leicht alkoholischen Getränk, das vor allem am Balkan und in der Türkei bekannt ist.

Mittendrin als sechste Präsentation sind schliesslich Sabrina und Mo dran. Die beiden erfüllen den Wunsch nach Kreativität besonders beeindruckend: Bei ihnen zeichnet ein mit flotter Musik, viel Witz und schneller Bildfolge höchst professionell gestalteter Kurzfilm den gesamten Herstellungsprozess nach. Zur mehr als gelungenen Präsentationsform gesellt sich auch noch ein wohlschmeckendes Produkt: fermentiertes Mais-Brioche in den Geschmacksrichtungen Vanille-Himbeer, Schoko, Zimt und Apfel-Zimt. Ein kulinarischer Volltreffer, der nicht erahnen lässt, dass sich die beiden zu Beginn fast die Zähne daran ausgebissen hätten. „Es war gar nicht einfach, die passende Kultur zu finden, die bei der Fermentation im Teig drinnen auch funktioniert und triebfähig ist“, gesteht der 24-jährige Mo. „Unsere ersten Backversuche gingen alle daneben und wir mussten das Rezept erst mit etwas Hefe nachbessern.“ Praxisnahe Erfahrungen, die auch für seine Kollegin Sabrina enorm wertvoll waren. „Für die Fermentation stehen einem theoretisch ja fast unendlich viele Kulturen zur Verfügung, aus denen man zusätzlich noch allerlei Kombinationen bilden kann. Nicht alles aber funktioniert oder führt zu einem echten Mehrwert für den Rohstoff oder das Nahrungsmittel“, weiss die 23-Jährige, die sich gut vorstellen kann, später einmal in der Produktentwicklung oder im Bereich Qualitätsmanagement zu arbeiten.

Die zehn Präsentationen in Wädenswill sind zu Ende. Susanne Miescher Schwenninger, die den inhaltlich gleichermassen abwechslungsreichen wie dichten Vormittag moderiert hat, zieht spontan ein erstes, positives Resümee: „Ich bin grundsätzlich sehr zufrieden – sowohl mit den Endprodukten als auch der Motivation, mit denen die Student:innen ans Werk gegangen sind.“ Was hat ihr eigentlich persönlich an den mit letzter Woche insgesamt 20 Präsentationen am besten gefallen? „Jede einzelne hat bewiesen, welch umfangreiche und spannende Möglichkeiten die Fermentation bietet und wie viel Potential darin noch steckt“, schwärmt die Dozentin. Und auch ein Stück weit, welch wertvollen Beitrag dazu die Rohstoffe des Bionetzes und dessen liechtensteinische Landwirt:innen geliefert haben – und hoffentlich auch in Zukunft noch liefern werden.

 

Verwendete Rohstoffe aus dem Bionetz

Beim Modul wurden von den ZHAW-Student:innen folgende, vom Bionetz zur Verfügung gestellten Rohstoffe fermentiert und zur Produktherstellung verwendet:

  • Braugerste (Körner & Mehl)

  • Buchweizen (Körner & Mehl)

  • Dinkel (Flocken & Mehl)

  • Einkorn (Mehl)

  • Gelberbsen (ganz & Mehl)

  • Hafer (Flocken)

  • Hartweizen (Mehl)

  • Hirse (Körner & Mehl)

  • Mais (Körner & Mehl)

  • Roggen (Mehl)

  • Schwarze Bohnen (ganz)

  • Schwarzer Hafer (Körner)

  • Sojabohnen (ganz)

  • Urdinkel (Mehl)

  • Waldstaudenroggen (Körner)

Neu entwickelte Produkte

Die ZHAW-Student:innen kreierten unter Verwendung der Bionetz-Rohstoffe inklusive einer Fermentation folgende 20 Produkte bzw. Lebensmittel:

  • Bier (alkoholreduziert)

  • Boza (leicht alkoholisches Getränk)

  • Erbsenbrot (vitaminreich)

  • Gelberbsen-Hummus (mit Probiotika)

  • Hafer-Bohnen-Patty

  • Hafermüesli

  • Hefeschnecken mit Sauerteig

  • Knuspermüesli

  • Mais-Brioche (glutenfrei)

  • Mais-Misopaste

  • „Miese Paste“ (Miso Paste)

  • Pea Cookies (Erbsenkekse)

  • Sojamilch

  • Süsses Sauerteigbrot mit Walnüssen

  • Supercharge Bar (zuckerreduzierter Getreideriegel)

  • Tortilla Chips

  • Unicorn Bread (Doppelmehl-Körnchenbrot)

  • Veganes Burger-Patty

  • Vegetarische Getreide-Bolognese

  • Vegetarischer Black Burger Patty