03.10.2022
Energie & Ressourcen

Geben und Nehmen

In Liechtenstein fallen allein an Siedlungsabfällen fast 900 kg pro Einwohner und Jahr an. Ein riesiger Müllberg aus privaten Haushalten, in dem sich neben recycling- und kompostierbarem Abfall auch grosse Mengen an Gebrauchsgegenständen befinden, die alles andere als entsorgt gehören. – Ein jährlich stattfindender „Bring- und Holtag“ schenkt dem vermeintlich alten Eisen ein zweites Leben.

Die Szenerie an diesem herbstlichen Samstagvormittag auf dem Nufa Areal in Vaduz wirkt auf den ersten Blick wie ein typischer Flohmarkt: Viele Menschen, die sich um kleine Zelte und Klapptische tummeln, um die dort ausgestellten Gegenstände unter die Lupe zu nehmen. Von Kleinmöbeln über Kleidung und Haushaltsgeräte bis zu buntem Spielzeug ist hier alles zu finden. Doch statt ihre Ware anpreisende Verkäufer:innen an den Ständen stechen einem lediglich eifrige Männer und Frauen in gelben Signalwesten ins Auge, die laufend neue Ware auf den Tischen verteilen. Alles Gegenstände, die im Minutentakt aus irgendwelchen Kofferräumen und Anhängern ausgeladen werden, um hier gratis an Menschen weitergegeben zu werden, die dafür noch Verwendung finden.

„Die erste Stunde ist immer die heftigste“, stöhnt Alannah Ospelt, eine der Signalwesten-Träger:innen, als sie sich mit einem Karton Geschirr zum Zelt mit der Aufschrift „Haushalt“ durch die Menge schlängelt. Die junge Vaduzerin hat bereits bei der Premiere des „Bring- und Holtages“ 2018 mitgeholfen. Heute – mit gerade einmal 18 Jahren – ist sie die Projektleiterin. Gemeinsam mit anderen freiwilligen Mitarbeiter:innen der Lenum AG sorgt sie für den reibungslosen Ablauf vor Ort.

Angenommen wird allerdings nicht einfach alles, was in Kellern oder Garagen nutzlos herumliegt, sondern lediglich gebrauchte Gegenstände, die noch gut erhalten, benutzbar und sauber sind. „Die Leute haben aber auch schon exotische Dinge wie eine Poolleiter oder eine Seifenkiste vorbeigebracht, die Abnehmer gefunden haben“, erinnert sich Alannahs Vater, Christoph Ospelt, Gründer und Geschäftsführer der Lenum AG und vor ein paar Jahren auch derjenige, der die Idee für einen Bring- und Holtag in Vaduz hatte. „Es gibt solche Aktionstage allerdings auch schon bei uns im Unterland und in einzelnen Gemeinden der angrenzenden Schweiz“, weiss der studierte Umweltnaturwissenschafter.

Dennoch haben sich heute auf dem Vaduzer Parkplatz erstaunlich viele Autos mit Schweizer Kennzeichen eingefunden. So auch ein junges Paar aus Sevelen, die gerade hinter den Absperrgittern mit dem Hinweis „Max. 10 min nur für Be- und Entladen“ parkiert haben: Pierina und Alessandro wuchten mit vereinten Kräften ein weisses Gitterbett mit Matratze aus ihrem Van und stellen dieses neben einen gläsernen Fernsehtisch. „Das Bett hat zwar schon einige Gebrauchsspuren, aber ist noch immer ein hochwertiges Möbel“, erzählt die zweifache Mutter. „Ich bin zum ersten Mal hier und habe davon zufällig während einer Autofahrt auf einer Werbetafel gelesen. Ich muss sagen: Superidee und wirklich gut organisiert“, strahlt die 34-Jährige, bevor sie wieder eilig ins Auto steigt. „Ich habe noch jede Menge Spielzeug von zuhause zu holen und hierherzubringen. Bei uns liegt das nur noch in Kisten herum.“

Fotos: Julian Konrad

Der Platz neben der Wertstoffsammelstelle der Gemeinden Vaduz und Triesen füllt sich zusehends. Während sich auf und neben den Tischen immer mehr Gebrauchtware stapelt, strömen nun auch immer mehr Menschen auf das Areal, die von hier etwas mitnehmen wollen. Unter ihnen auch eine junge Frau, die erst seit wenigen Monaten hier im Land wohnt: Julia aus der Ukraine. Im Sommer ist sie gemeinsam mit ihren beiden Kindern und ihrem Vater aus dem Kriegsgebiet geflohen. Julias Mann musste in Mariupol bleiben. „Wir Ukrainer:innen hier in Liechtenstein haben eine eigene WhatsApp-Gruppe und aus der habe ich von diesem Bring- und Holtag erfahren“, erzählt sie mit einem schüchternen Lächeln, ehe sie eine dunkle Tragtasche öffnet und auf zwei Bücher deutet. „Diese beiden Kinderbücher habe ich hier bereits gefunden. Jetzt schaue ich noch beim Spielzeug und den anderen Sachen.“

Der erste Ansturm legt sich langsam. Die Lieferungen trudeln nur noch vereinzelt ein und sämtliche Auflageflächen sind mittlerweile prall gefüllt. Alannah Ospelt hat Zeit für eine kleine Kaffeepause und ein kurzes Gespräch: „Wir führen als Lenum AG diese Veranstaltung seit vier Jahren einmal jährlich im Spätsommer oder Herbst mit Unterstützung der Nufa AG und den Gemeinden Vaduz und Triesen durch.“ Die Vorbereitungen starten dafür jeweils bereits im Juni. „Da geht es an die Organisations- und Terminplanung und wie wir das Ganze bewerben können,“ erzählt die junge Vaduzerin. Ihre eigene Motivation fasst sie schnell zusammen: „Man spürt einfach die Freude und das positive Feedback der Leute, die hierherkommen, um entweder etwas zu bringen oder etwas mitzunehmen. Oder oft auch beides.“

Wie etwa Andrea aus Vaduz. Die Mittfünfzigerin ist dieses Jahr umgezogen und hat einiges gebracht, was in ihrer neuen Bleibe keinen Platz mehr hat „Eine Lampe aus den 1970er Jahren und ein paar Dinge, die man mir irgendwann geschenkt hat, für die ich selbst aber keine Verwendung habe“, schmunzelt sie. Jetzt flaniert sie zwischen den einzelnen Tischen umher und sucht selbst nach Gegenständen, die sie gut gebrauchen könnte. „Ich bin sowieso seit langem ein Second-Hand-Anhänger und schaue auch regelmässig in den Brockenstuben vorbei. Und heute habe ich hier ein wenig auf einen Wäscheständer und einen mittelgrossen Kochtopf spekuliert, der mir in meinem Haushalt noch fehlt.“ Nicht ohne Stolz erzählt Andrea an einem Beispiel, wie auch ihr Umfeld sehr bewusst mit dem Neukauf von Produkten umgeht. „Wir haben zum Beispiel innerhalb der Familie und dem engsten Freundeskreis nur eine Stichsäge, die privat ja wirklich nur alle heiligen Zeiten zum Einsatz kommt. Anstatt das jeder ein solches Gerät bei sich im Keller verstauben lässt, wandert unsere einfach hin und her – wer auch immer sie gerade braucht.“

11 Uhr vormittags. Nur noch eine Stunde bis 12 Uhr und damit dem offiziellen Ende des Bring- und Holtages. Einige der freiwilligen Helfer:innen, die an diesem Vormittag viele Kisten angenommen, deren Inhalt geprüft und schliesslich auf den Tischen verteilt haben, stehen bereits zusammen und tauschen sich über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus. Unter ihnen auch Julia Frommelt, Geschäftsführerin des Vereins Jugend Energy, die bereits über den heutigen Samstag hinausblickt: „Es wäre schön, wenn solche Aktionen nicht nur auf einen Tag im Jahr beschränkt blieben. Es gibt ohnehin schon Überlegungen, an denen auch die Stiftung Lebenswertes Liechtenstein massgeblich beteiligt ist, wie man dafür – oder auch für sogenannte Repair Cafés – einen permanenten Umschlagplatz schaffen könnte.“

Noch ist dies zwar Zukunftsmusik, der heutige Tag hat aber für eine solche Idee erfolgreich Werbung gemacht. „Dieses Mal wird definitiv weniger übrigbleiben. Es sind deutlich mehr Abnehmer gekommen als sonst. Neben den aktuell hier im Land lebenden Flüchtlingen offenbar auch mehr Einheimische und Menschen aus der Region,“ zieht Alannah Ospelt eine erste Bilanz. Was nach 12 Uhr noch auf den Tischen zurückbleibt, wird grossteils in bereits vor Ort stehende Transporter oder Anhänger von Organisationen verladen, die dafür dankbare Abnehmer in Osteuropa haben.

Zwei gerahmte Stimmungsbilder eines idyllisch am Meer gelegenen, griechischen Dorfes werden diese weite Reise allerdings nicht antreten. Fest unter den rechten Arm von Fritz aus Buchs geklemmt, werden diese schon bald eine Wand seiner Wohnung zieren. „Mol luaga, wo die genau hinkommen. Aber bei diesem herbstlich bewölkten Wetter sind solche Motive für mich einfach eine Wohltat“, verrät der 73-jährige Rheintaler, als er flotten Schrittes das Areal verlässt. Eine schöne und fast symbolträchtige Schlusssszene für einen Bring- und Holtag, der menschlich wie umwelttechnisch für einen warmen Sonnenstrahl – oder vielleicht sogar Silberstreif am Horizont – gesorgt hat.