16.07.2021
Ernährung & Landwirtschaft

«Die Menschen sind bereit, etwas zu verändern»

«Ernährung & Landwirtschaft» zählt zu einem Fokusthema unserer Stiftungsarbeit. Drei Projekte haben wir dazu in enger Zusammenarbeit mit Urs Niggli, Pionier und Wegbereiter der biologischen Landwirtschaft, in Angriff genommen. Im folgenden Interview gibt der bekannte Agrarwissenschaftler Einblicke in die herausfordernde Arbeit.

Die provokante Frage vorab: Die Corona-Pandemie hat zu einem Umdenken geführt. Plötzlich gewann die Nahversorgung – und damit der Bäcker, der Metzger oder auch der Landwirt von nebenan – an Bedeutung und Wertschätzung. Und zuhause im Lockdown kam häufiger gesundes und nachhaltig produziertes Essen auf den Tisch.
Werten Sie das nur als ein kurzfristiges Phänomen oder hat die Pandemie tatsächlich zumindest in Sachen nachhaltiger Ernährung und Landwirtschaft für einen spürbar positiven Schub gesorgt?

Tatsächlich hat der Konsum von biologischen Lebensmitteln zugenommen. Intuitiv haben die Menschen auf eine gesunde Ernährung geachtet und zu Bioprodukten gegriffen. Im Handel gab es sogar Engpässe. Aber es gab auch weniger erfreuliche Entwicklungen: Fertigmahlzeiten, Sandwiches und allerlei Kalorienbomben wurden mit aufwendigen Verpackungen nach Hause geliefert oder wurden irgendwo unterwegs gegessen. Während meiner Arbeit in Wien bin ich mittags häufig in den nächsten Supermarkt gegangen. Dort wurden die Eingangsbereiche extra leergeräumt, um das Heer von hungrigen Büro-Mitarbeitenden zu versorgen.

Welche sind denn aus Ihrer Erfahrung – abgesehen von Corona und seinen möglichen Auswirkungen – die wichtigsten Argumente, um Menschen von einer nachhaltigen Lebensweise im Bereich Ernährung und Landwirtschaft zu überzeugen?

Das Unbehagen der Bevölkerung gegenüber der konventionellen Landwirtschaft und Ernährungsweise ist deutlich gestiegen. Das ist eine gesamteuropäische Entwicklung. Gleichzeitig hat der gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellenwert der Landwirtschaft enorm zugenommen. Weltweit muss mehr produziert werden und gleichzeitig werden die natürlichen Ressourcen Boden, Wasser, Luft sowie Energie knapper und die Biodiversität sinkt. In Zukunft werden die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe daher wieder steigen. Die Menschen sind deshalb bereit, etwas zu ändern. Die verschiedenen, lautstarken Interessensgruppen sind allerdings uneinig, wie sie dieser Herausforderung begegnen sollen. Da fällt es vielen Menschen schwer, für sich selbst die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Vom globalen, theoretischen Blickwinkel zu einem ganz konkreten, regionalen Vorhaben: In Liechtenstein arbeiten Sie gemeinsam mit der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein gerade an drei spannenden Projekten zum Thema. Warum hat gerade ein Land wie Liechtenstein gute Chancen, mutige und zukunftsweisende Ideen auch tatsächlich umzusetzen?

In der Expertengruppe der EU-Kommission zur Umsetzung der «Farm to Fork»-Strategie, die eine nachhaltige Ernährung – direkt vom Hof auf den Tisch – zum Ziel hat, stellten wir fest, dass es viele neue, dezentrale Räume braucht, in welchen sich die Bevölkerung aktiv in die Debatten und Entscheidungen einbringen kann. Ich habe in der besagten Expertengruppe angetönt, dass wir exakt ein solches Projekt in Liechtenstein zusammen mit der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein in Vorbereitung hätten. Das hat enorm Eindruck gemacht, dass sich gleich ein ganzes Staatswesen auf den Weg macht. Es braucht Beispiele, wo das gelingt.

Kernstück der Projekte ist die Gründung des Vereins Agrarökologie Liechtenstein. Welche konkreten Aufgaben soll dieser wahrnehmen?

Der Verein Agrarökologie Liechtenstein ermöglicht eben einen solchen Raum, wo von unten nach oben neue Ideen entwickelt und umgesetzt werden können. Agrarökologie haben wir es deshalb genannt, weil alle Akteure, die ein ökologisches und soziales Ziel haben, darin Platz haben sollen. Wir wollen nicht polarisieren, sondern Kräfte bündeln.

Unter der Leitung des neuen Vereins ist als zweites Projekt ein sogenanntes «Bionetz» geplant. Dieses soll neben dem Aufbau von Leitbetrieben aus der Liechtensteinischen Biolandwirtschaft gleichzeitig entsprechendes Know-how vermitteln, Schnittstelle für Verarbeitung und Vermarktung sowie Anlaufstelle für Konsumenten sein. Gibt es vergleichbare Netzwerke bereits in anderen Ländern oder Regionen?

Das geplante Bionetz ist eigentlich ein Feld & Stall-Forschungslabor, welches der zunehmenden Akademisierung der Agrarforschung entgegenwirken soll. Viele Praktikerinnen und Praktiker beklagen, dass ihnen wissenschaftlich hochkarätige Publikationen nichts bringen und sie ihre Probleme selber lösen müssen. Dies wollen wir ändern. Landwirtinnen und Landwirte als Entwicklungspartner zu haben, ist zudem oft billiger, schneller und erfolgreicher. Zurzeit elektrisiert überall auf der Welt die Idee von «Co-Creation of Knowledge», also von einem gemeinschaftlichen Schöpfungsprozess von Fachwissen, um der Transformation von Ernährungssystemen in Richtung Nachhaltigkeit Schubkraft zu geben. Und genau das soll das geplante Bionetz in Liechtenstein fördern.

Im dritten Projekt geht es um die Rinderhaltung. Mit dem Projekt «Liechtensteiner Weiderinder» will man in Liechtenstein die tiergerechte Haltung, nachhaltige und gesunde Fütterung sowie die Produktion von hochwertigem Bio-Weidefleisch unterstützen. Warum ist dafür gerade unser Land gut geeignet?

Die Veredlung von Getreide zu Fleisch hat sich weltweit als Sackgasse erwiesen. Denn die Ackerflächen sind beschränkt und die Rodung von Wäldern – insbesondere Regenwäldern – sowie die Entwässerung von Mooren beschleunigen die globale Erwärmung und vernichten Biodiversität. Das Grünland wird deshalb eine wertvolle Ressource bleiben, welche durch Bio-Weidemast hochwertiges Protein erzeugt. Ein Teil der Ackerflächen, die heute für Kraftfutter genutzt werden, könnten über den Anbau von Hülsenfrüchten wie Bohnen, Erbsen, Linsen, Lupinen oder Kichererbsen als pflanzliches Protein direkt der menschlichen Ernährung zugeführt werden. Mit einer viel höheren Ausbeute, als dies bei einer tierischen Veredlung möglich ist. Ausserdem lassen sich über den Pflanzenbau auch Nebenprodukte wie Kleien, Presskuchen oder Trester gewinnen, welche im reduzierten Masse auch die Schweine- und Geflügelhaltung ermöglichen. Die enorme Vielfalt der liechtensteinischen Standortbedingungen bietet die Gelegenheit, diese Optionen auszuprobieren und weiterzuentwickeln.

Der Zeitrahmen sieht vor, dass man die eng miteinander verknüpften Projekte bereits innerhalb der nächsten drei Jahre auf Schiene bringen möchte. Was braucht es für diesen ehrgeizigen Fahrplan am meisten von Seiten der Bevölkerung, der Politik und der Wirtschaft in Liechtenstein?

Offenheit und grosses Interesse, gemeinsam etwas zu bewegen. Es ist eine Win-win-Situation für alle, deshalb kann es nicht schiefgehen. Wir werden die neugeschaffenen Strukturen oder «Räume» intensiv und abwechslungsreich für die gemeinsame Entwicklungsarbeit brauchen und gerade initiative Menschen werden in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Gibt es ein in Liechtenstein produziertes Lebensmittel, das im Hause Niggli heute schon gelegentlich auf den Tisch kommt?

Ich kenne Liechtenstein aus meiner früheren Arbeit auf beiden Seiten des Rheins, wo ich auch intensiv mit Hilcona im Feldgemüsebau zusammenarbeitete, und von Grünland-Exkursionen in die Alpen. In Wien habe ich schon ab und zu Gefrierprodukte von Hilcona gekauft, wenn ich keine Lust hatte, lange in der Küche zu stehen. In der Schweiz haben meine Frau und ich den Ehrgeiz, mit frischen Lebensmitteln zu kochen, meist am Abend. Das Essen vorbereiten geht so einfach. Ich liebe exzellenten Alpkäse und den besten habe ich an einem Empfang in der Residenz des liechtensteinischen Botschafters in Berlin anlässlich der Internationalen Grünen Woche, der traditionsreichen Ernährungs- und Landwirtschaftsmesse, gekostet.

Zur Person Prof. Dr. Dr. Urs Niggli (*1953) ist Agrarwissenschaftler und Vordenker der biologischen Landwirtschaft. Von 1990 bis 2020 leitete er das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick (Aargau). Unter seiner Führung hat sich die kleine Forschungseinrichtung zu einem internationalen Forschungs- und Wissenszentrum mit rund 200 Mitarbeitern entwickelt. Im Jahr 2020 gründete Urs Niggli die agroecology.science als ein unabhängiges Forschungs- und Beratungsinstitut, das Expertise und Kompetenzentwicklung für nachhaltige Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme anbietet.

Mehr Info unter: www.agroecology.science

Fotografien: Mafalda Rakoš